Vertraute Fremde

Dreißig Minuten Busfahrt liegen vor mir. Nachdem ich einen schönen Fensterplatz im Oberdeck ergattert und mein Buch ausgepackt habe, erreichen wir schon die nächste Haltestelle. Hier, am Innsbrucker Platz, steigt neben anderen Passagieren auch eine junge Frau zu, die schon beim Einsteigen telefoniert. Und dies so laut, dass ich deutlich jedes ihrer Worte verstehen kann, seit sie die Treppe nach oben erklimmt. Nun sitzt das Fräulein schräg neben mir. Wir sind am Potsdamer Platz angekommen, und sie unterhält noch immer den kompletten Bus.

Inzwischen weiß ich, dass sie 19 Jahre alt ist, nur zwei Familienmitglieder in Berlin hat, einige ihrer Freunde bereits mit 14 Jahren Drogen nahmen, eine Bekannte abgeschoben wurde, sie selbst kein Engel ist, eine verhasste Frau nicht beleidigt hat und einiges mehr. Und das, obwohl sie nicht ein einziges Wort mit mir wechselte. Zum dritten Mal wiederholt die – mir nicht mehr ganz so – Fremde ihrem Gesprächspartner, was sie hätte alles sagen können, es aber nicht getan hat. Nun erfahren es wenigstens wir anderen Fahrgäste. Und zwar ausgiebig.

Was muss das Mädchen einsam sein. Vielleicht hat es auch nur ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis. Oder ist es einfach eine gewisse Ignoranz uns anderen Fahrgästen gegenüber? Dies denke ich, als der Bus bereits die Fischerinsel erreicht.

Gleich muss ich aussteigen. Bin ich nun froh, dass ich diesem verbalen Auswurf entkomme, oder eher traurig, dass ich nicht mehr über die junge Frau erfahre? Ich weiß es nicht.

Nun, jedenfalls weiß ich, dass unsere schöne Großstadt Berlin wohl nicht ganz so anonym ist, wie oft behauptet wird. Was ich hier in dreißig Minuten über eine fremde Frau erfahren habe, die ich nie zuvor gesehen habe und wahrscheinlich auch nicht noch einmal treffen werde, weiß ich von vielen Menschen nicht, die ich schon jahrelang zu kennen glaube.


EvN

Druckversion | Sitemap
© Großstadtgesichter Impressum