Verschobene Realität

Obwohl die Luft von all dem Rauch nicht die beste ist, sitzen mein Mann und ich an der Theke bei einem Glas Bier. Diese Kneipe ist uns von Freunden als besonders gemütliche Berliner Institution empfohlen worden. Es scheint zu stimmen, denn trotz des etwas brummeligen Wirtes und einer niemals lächelnden Bedienung sind alle Tische belegt. Ganz offensichtlich Stammgäste, die sich hier paar- und grüppchenweise treffen.

Nur an einem der Tische, uns gegenüber sitzt ein einzelner junger Mann. Er ist um die dreißig, hat volles, dunkelblondes Haar und mit seinen zirka ein Meter neunzig eine stattliche Figur. Ja, ich würde ihn als attraktiv bezeichnen. Wenn da nicht seine Marotte wäre.

Er steht auf, dreht sich zum Gehen, steht still da, scheint kurz nachzudenken und setzt sich wieder. Und das Ganze drei bis vier Mal innerhalb einer Minute. Dann sitzt er am Tisch und sortiert und richtet alles, was auf dem Tisch liegt oder steht. Dies alles wiederholt sich mehrfach.

Ich würde gern seine Gedanken lesen können. Was sieht er wohl gerade? sage ich. Warum willst du das wissen? fragt mein Mann.

Was ist, wenn mich die anderen gerade anstarren und sich fragen, mit wem ich hier rede. Vielleicht bin ja auch ich gerade nur in meiner eigenen Welt, und du bist gar nicht real. Vielleicht sieht der junge Mann ja die wahre Realität und nicht ich. Und bist du dir sicher, dass ich hier wirklich sitze? Oder existiere ich nur in deinen Gedanken?

Bevor wir tiefer in dieses Gespräch einsteigen, bestelle ich noch schnell zwei Biere bei dem mürrischen Wirt. Der ist nämlich gerade ganz klar in meiner Welt.

EvN

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