Die Eitelkeit ist nicht weiblich.

 

Während die Eitelkeit bisher als negative Eigenschaft galt, scheint es mir heute, sie gehöre bereits zum Guten Ton. Dass sie dabei  von männlichen genauso wie von weiblichen Mitmenschen offen zur Schau getragen wird, lässt sich während einer Stunde in der Berliner U-Bahn bestens belegen.

 

Hier, wo der dunkle Hintergrund der Fenster das Innere der Waggons zurückwirft, ergötzen sich viele Fahrgäste an ihrer eigenen, vermeintlichen Schönheit oder suchen nach Möglichkeiten, diese noch zu intensivieren.

 

Da feilt ein fünfzehnjähriger, pickeliger Teenie an seiner komplizierten Frisur genau so lang, wie die Mittvierzigerin neben ihm für die Korrektur ihres Makeups benötigt.

 

Ein durchaus lässig wirkender Fünfzigjähriger mit grau melierten Schläfen testet anhand seines Spiegelbildes, ob sich seine Anziehungskraft durch das einseitige Hochziehen seiner rechten Braue noch verstärken lässt, während das kleine Mädchen, das neben ihm auf der Bank kniet, die optische Ausstrahlung ihres Schmollmundes überprüft.

 

Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren einmal irgendwo gelesen habe. Darin wurde erzählt, dass mit jedem Blick in den Spiegel, ein Teil der eigenen Seele verloren geht.

 

Noch während ich darüber nachdenke, wie genau der Inhalt des Märchens war, sieht mir mein mit Denkfalten durchfurchtes Spiegelbild entgegen. Ich entspanne mein Gesicht in der Hoffnung auf weniger Falten und lächle über den verstohlenen Fingerzeig meiner eigenen Eitelkeit.

 

EvN

Druckversion | Sitemap
© Großstadtgesichter Impressum