Attencion Pickpockets!

Der Bus ist so voll, dass selbst in den Gängen die Menschen Nase an Nase stehen müssen. Da ich bereits am Beginn der Buslinie eingestiegen bin, habe ich einen Fensterplatz ergattert. Allerdings ist dieses Fenster komplett mit Werbung verklebt und somit zur Aussicht nicht geeignet. So kann ich meine Augen schließen und mir ein Schläfchen gönnen, mein Buch beginnen oder die anderen Fahrgäste beobachten.

Ersteres vermeide ich, da ich mir vorstelle, wie es auf andere wirkt, wenn mein Kopf ständig weg nickt oder gar mein Mund offen steht. Die Luft hier im Bus ist wegen der Menschenmasse so mies, dass ich mich wahrscheinlich nicht auf den Inhalt meines Buches konzentrieren könnte. So entscheide ich mich für die dritte Variante und sehe mir die Menschen an, die es genau wie mich, in diesen Doppeldecker verschlagen hat.

Ich höre viele Sprachen. Neben Deutsch, Englisch und Spanisch wird hier auch in mir unbekannten Sprachen gesprochen.

Während ich die volle Haarpracht der Südländerin mir gegenüber bestaune, ertönt die laute und bestimmte Stimme der Busfahrerin. Jedoch ist es nicht die übliche Aufforderung „Bitte von der Tür weg treten.“, die an jeder zweiten Haltestelle ertönt, weil sich die Türen nicht schließen lassen, sobald eine Person im Bereich der Lichtschranke steht.

Heute vernehme ich zum ersten Mal eine Warnung: „Bitte achten Sie auf Ihre Taschen; es sind Taschendiebe unterwegs.“ Ich überlege, ob die Busfahrerin diese Information über Funk erhalten hat oder ob sie heute bereits Fahrgäste hatte, die sich einen Fahrschein kaufen wollten und dabei feststellen mussten, dass ihre Brieftasche gestohlen wurde.

Als zwei Minuten später nochmals die Busfahrerin zu vernehmen ist: „Bitte achten Sie auf Ihre Wertsachen, heute sind vermehrt Taschendiebe unterwegs.“ schweift mein Blick über die Gesichter der anderen Fahrgäste und bleibt an der korpulenten Frau und ihrer nicht minder gewichtigen Tochter hängen. Könnte dies ein eingespieltes Gangsterpärchen sein? Oder kommt der Mann mit dem riesigen Stockschirm als Dieb in Frage? Dann doch eher der junge Mann mit dem zerschlissenen Rucksack. In dem Film „Dirty Dancing“ stellte sich ein äußerst nettes, etwas unbeholfen wirkendes, altes Ehepaar als Diebesbande heraus. So ein Pärchen finde ich hier allerdings nicht.

Was mir jedoch auffällt ist, dass die Augenpaare der anderen Fahrgäste ebenfalls ihre Umgebung nach potentiellen Dieben scannen. So gerate auch ich ins Visier. So wenigstens vermittelt es mir mein Gefühl. Trauen mir die anderen wirklich zu, eine gemeine Diebin zu sein?

Meine unterhaltsame Neugier wandelt sich in Unmut auf die Busfahrerin. Mit ihren Warnungen hat sie es geschafft, Angst und Misstrauen unter den Fahrgästen zu sähen. Nun mal halblang, denke ich, die gute Frau bewahrt uns heute vielleicht davor, Opfer von Kriminellen zu werden.

Auch wenn sich in diesem Bus für mich nicht feststellen lässt, ob und wer hier ein Langfinger ist, möchte ich gerade am liebsten allen Dieben so richtig gegen das Schienbein treten. Und zwar nicht nur für ihre Untaten, sondern auch dafür, dass sie die Ursache für übertriebene Ängstlichkeit und unnötige gegenseitige Verdächtigungen sind.

„Mit mir nicht!“, versuche ich gegenzusteuern. Ich schaue nochmals zu dem Mutter-Tochter-Gespann und stelle mir vor, wie die beiden gerade ganz viel Spaß beim gemeinsamen Shoppen hatten. Der Herr mit dem Schirm ist sicher der perfekte Kavalier, der seine Dame vor dem Regen schützt, und der junge Mann kommt bestimmt gerade von der Arbeit, bei der er so wenig verdient, dass er auf einen neuen Rucksack lange sparen muss.

Als ich aus dem Bus ausgestiegen bin, sehe ich dennoch nach meinem Portemonnaie. Sicher ist sicher. Immerhin konnte ich ja meinen direkten Sitznachbarn nicht so unverhohlen anstarren, um mir von ihm ein rechtes Bild zu machen. Ob er wohl auch gerade nach seiner Brieftasche sieht, nachdem ich mich an ihm vorbei schlängeln musste?

Evn

 

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