Einsames Dinner

 

Sie hält das blank geputzte Glas gegen das Licht der Deckenlampe und stellt es, nachdem sie sich von dessen Reinheit überzeugt hat, zurück auf seinen Platz. Auch wenn die Symmetrie des Bestecks und des Geschirrs auf dem weißen Tischtuch vollkommen scheint, verändert sie mit ihren zarten Fingern, deren Nägel mit einem Blutrot überzogen sind, die Abstände um ein nicht wahrnehmbares Maß.

 

In der Küche wirft sie einen Blick durch das dicke Glas des Backofens, löst die Schleife ihrer Schürze und hängt diese mit einem leichten Schwung über die Lehne des einzelnen Stuhls, der unter dem Fenster steht.

 

Dann begibt sie sich ins Bad. Mit sicherer Gewohnheit trägt sie den Lippenstift auf, dessen Rot mit dem ihrer Nägel perfekt harmoniert, löst den Gummi, der ihr schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen hielt, und bürstet mit kurzen, festen Bewegungen ihre braune Mähne nach hinten, wobei sie jeden Strich der Borsten auf ihrer Kopfhaut genießt.

 

Zufrieden betrachtet sie ihr Spiegelbild unter dem harten Licht der Neonröhre und bemerkt nicht den traurigen Blick, der ihr entgegen schaut.

Das Klacken der Absätze ihrer Schuhe hallt durch den Raum, als sie die Bratform aus dem Ofen holt und auf den Tisch stellt. Sie schaltet den CD-Player ein und hält kurz inne, bis die Lautsprecher die sanfte Musik Ludovico Einaudis freigeben.

 

Nun öffnet sie den Schraubverschluss der kleinen Rotweinflasche und gießt deren kompletten Inhalt in das bauchige Glas. Gedankenverloren lauscht sie der Musik, während sie nur wenige Bisse ihres aufwendig zubereiteten Essens genießt. Den Rest wird sie einfrieren und vielleicht irgendwann bei einem Besuch ihres Sohnes aufwärmen. Mit bewusst kleinen Schlucken leert sie das Glas, wobei sich auch hier ein Genuss nicht recht einstellen will.

 

Mit dem melancholischen Gefühl, das Musik und Wein hinterlassen, räumt sie den Tisch ab und bereitet sich für die Nacht vor, in der sie wieder von einem festlich gedeckten Tisch träumen wird, um den ausgelassene Menschen miteinander reden, lachen und singen. Mittendrin sitzt sie, hält ihr Glas in der Hand, an dem der Abdruck ihrer blutroten Lippen schimmert, und prostet ihrem Gegenüber lächelnd zu.

 

Und wie jede Nacht wird sie sich auch in dieser die dünnen Wollsöckchen von den Füßen streifen, ohne die se in ihrem kalten, großen Bett nicht einschlafen kann.

 

EvN

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